In seiner neuesten Publikation (über 1700 Seiten) versucht Jürgen Habermas eine Genealogie des heute gängigen nachmetaphysischen Denkens zu erstellen. Das imposante und beeindruckende Werk, das sich auch – mit dem Schwerpunkt Glauben und Wissen – als Geschichte der westlichen Philosophie lesen kann, zeigt auf, wie sich Philosophie in Europa von Religion und Metaphysik losgelöst und säkularisiert hat. Dass diese nachmetaphysische Philosophie heute nur eine Strömung des westlichen Denkens ist, wird von Habermas nicht thematisiert, versucht er doch den historischen und systematischen Hintergrund seines eigenen Denkens zu klären. 
Nachmetaphysisches Denken, so wie es Habermas versteht, muss zur „vernünftigen Freiheit“ führen. Mit der Trennung von Religion und Metaphysik aber ist für das moderne Denken die Aneignung dieses Begriffs kompliziert geworden, weil das Vertrauen in das Versprechen einer rettenden Gerechtigkeit, so wie sie Kant noch auf seinem theologischen Hintergrund denken konnte, erschüttert ist. Mit der Autorität Gottes als Gesetzgeber entfällt auch die Bindungskraft absoluter Verpflichtung, und diese auf die Autorität und letztlich die Durchsetzungs- und Sanktionskraft eines normsetzenden und normkontrollierenden Machthabers zurückzuführen, verfehle das theologische Verständnis eines Schöpfergottes genauso wie die „Pointe des Kantischen Freiheitsverständnisses, wonach wir uns nur dann als autonom verstehen können, wenn wir unsere Willkür an vernünftig gerechtfertigte und daher kategorisch geltende Normen binden“. Was also tun? 
Da das Selbstverständnis des Menschen als eines autonomen Vernunftwesens auch für nachmetaphysisches Denken unabdinglich ist, braucht es eine mentalitätsbildende Kraft, die zum autonomen Gebrauch der Vernunft ermutigt, eventuell durch Angabe von guten Gründen. 
Nach dem Abschied vom christlichen Glauben und der Detranszendentalisierung der Vernunft bleibt der Aufruf, uns als autonome Vernunftwesen zu verstehen, eine Zumutung. Nichts und niemand zwingt uns dazu, aber eines wird klar: der detranszendentalisierte Begriff der vernünftigen Freiheit impliziert, dass niemand für sich alleine autonom sein kann. Und so kann der Mut, sich als autonomes Vernunftwesen zu verstehen, aus den historischen Spuren jener moralisch-praktischen Lernprozesse geschöpft werden, die sich im Zuwachs an institutionalisierten Freiheiten und heute in den Praktiken demokratischer Verfassungsstaaten verkörpern. 
Es sind – oder es bleiben nur noch – solche empirischen Gründe, die das fragile Vertrauen in die eigenen Kräfte stützen können.
Will die säkulare Moderne dem Sog zu einem transzendenzlosen Sein nachgeben, so bleibt die religiöse Erfahrung ihr ein Dorn im Fleisch. Denn – so Habermas -solange diese sich auf den Ritus einer Gemeinde von Gläubigen stützt, der beansprucht, die Verbindung mit einer aus der Transzendenz in die Welt einbrechenden Macht herzustellen, so lange hält die religiöse Erfahrung für die säkulare Vernunft die (beängstigende?) Frage offen, ob es noch unabgegoltene semantische Gehalte gibt, die „ins Profane“ übersetzt werden müssen.


Habermas, am Schluss seiner langen, tiefgründigen Arbeit: 
„Die säkulare Moderne hat sich aus guten Gründen vom Transzendenten abgewendet, aber die Vernunft würde mit dem Verschwinden jeden Gedankens, der das in der Welt Seiende im Ganzen transzendiert, selber verkümmern.“

Heißt das nun, dass, für nachmetaphysisches Denken, Abschied von Religion und Detranszendentalisierung der Vernunft nicht gleichbedeutend sind mit der Aufgabe eines jeden die Welt tranzendierenden Gedankens? 
Wenn dem so wäre, dann stellt sich dem Gottgläubigen die berechtigte Frage, ob die säkulare Moderne sich wirklich aus guten Gründen von Gott abgewendet hat und ob ihr Folge zu leisten, der einzig mögliche Denkweg für die Zukunft Europas wäre.

P. Jean-Jacques Flammang SCJ 

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